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Heimat-Forschung geht online (19. Januar 2022)

EU-Projekt: Regensburger Uni-Bibliothek digitalisiert unterfränkische Physikats-Berichte

Bezirksheimatpfleger Prof. Klaus Reder zeigt eine alte Ausgabe der Physikats-Berichte. Mittlerweile sind diese ethnografischen Reporte für jedermann im Internet kostenlos zugänglich. (Foto: Mauritz)

Würzburg. (mm) „Das Volk ist geweckt, gesellig und zeigt mit einiger Freiheit doch auch wieder Feinheit im Benehmen.“ So beschreibt Landgerichtsarzt Dr. Joseph Zöllner in seiner „gehorsamsten Anzeige“ vom 20. September 1861 an die Königliche Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg zu seinem Physikats-Bericht die Bewohnerinnen und Bewohner des Landgerichtsbezirks Miltenberg. Und weiter heißt es in seinem „ethnographischen“ Report: „Im Schiffer- und Fischerstande finden sich kräftige Figuren, muskulöse Statu­ren mit sonnverbrannter Haut. Ebenso kräftig das Volk der Steinhauer, wie wohl hier nicht selten in den vorgerückten Jahren der Steinstaub Ursache für den so genannten Steinhauerhusten ist.“

Physikate hießen im 19. Jahrhundert die damaligen Landgerichtsbezirke. 1858 beauftragte das königlich-bayerische Innenministerium die Gerichtsärzte, entsprechende Berichte über das Leben und die Gewohnheiten der Untertanen in den einzelnen Kreisen anzufertigen. Heute gewähren diese so genannten Physikats-Berichte einen höchst authentischen Einblick in das oft gar nicht so romantische Leben in der „guten alten Zeit“. Zu finden sind die Original-Dokumente in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek in München, wo sie zu zehn Konvoluten von jeweils drei bis sechs Berichten gebunden in den Regalen stehen.

Neuerdings lassen sie sich aber auch ganz bequem übers Internet lesen. Im Rahmen des europäischen Digitalisierungsprojekts EODOPEN erfasst die Universitätsbibliothek Regensburg wichtige Publikationen aus dem 19. und 20. Jahrhundert, um sie so allen Interessierten kostenlos zugänglich zu machen. Die Bandbreite der bislang 500 digitalisierten Werke reicht von wissenschaftlichen Themen bis zur Landes- und Heimatkunde. Auf Initiative von Bezirksheimatpfleger Prof. Klaus Reder befindet sich mittlerweile auch der Großteil der Physikats-Berichte unter diesen digitalisierten Werken. Alle Bände liegen inklusive wissenschaftlicher Erläuterungen im Volltext vor und bieten eine kurzweilige und spannende Lektüre.

Zusätzliche Informationen tragen zum besseren Verständnis bei. So erfahren wir etwa über den Miltenberger Landgerichtsarzt Dr. Zöllner, dass der am 29. Juni 1807 als Sohn eines Schmiedes in der Würzburger Dompfarrei geborene Mediziner an der dortigen Universität studiert hatte und 1832 zum Doktor der Medizin promoviert wurde. Sein Lohrer Amtskollege Dr. Joseph J. Goy hingegen entstammte einer eingesessenen Medizinerfamilie. Schon dessen Vater Jakob Peter Goy war Landgerichtsarzt in Lohr, und sein 1802 geborener Bruder Michael Eugen Goy verfasste später als Landgerichtsarzt den Physikats-Bericht für Hofheim. Angaben wie diese geben den Autoren Figur und Form, sie lassen Biografien aufscheinen, und sie machen den Blickwinkel verständlich, aus dem heraus die Berichte formuliert wurden.

So beschreibt Joseph J. Goy seine Mitbürgerinnen und Mitbürger mit unverkennbarer Sympathie: die geistigen Anlagen seien durchgängig gut, das Fassungsvermögen leicht und deren Urteil richtig. Allerdings ließen die relativ kleinen und „Großteils an waldigen Bergabhängen“ gelegenen Felder Ackerbau nur begrenzt zu. Daher „dienen Kartoffeln, welche vorzugsweise angebaut werden, besonders der arbeitenden Klasse und den auf Tagelohn Angewiesenen, verbunden mit Milch als vorherrschendes Nah­rungsmittel“, schreibt Goy. Auch an einer anderen Stelle lässt sich zwischen den Zeilen das harte Leben im damaligen Spessart erahnen: „Die Liebe zur Heimat ist wie allen Gebirgsvölkern auch den Bewohnern dieses Physikats-Bezirkes eigen. Sie trennen sich nur schwer von der­selben, indessen kommen Beispiele von Auswanderung besonders nach Ameri­ka nicht gar selten vor“, heißt es in dem Report.

Die Physikats-Berichte sind in einer wunderbar verstaubten Sprache verfasst und für heutige Leser atemberaubend politisch unkorrekt. So schreibt der königliche Gerichtsarzt Dr. Heffner aus Bischofsheim vor der Rhön: „Die Jugend wird von dem zwölften Jahre an zu schwerer Arbeit angehalten. Die Knaben müssen in diesem Alter schon dem Vater bei dem Landbau tüchtig helfen, werden dadurch bei Zeiten abgehärtet, oft aber unterliegen sie auch der beschwerlichen Arbeit.“ Fast schon ein wenig romantisch klingt es dann, wenn es an einer anderen Stelle heißt: „Die langen Winterabende vergehen mit leichter Arbeit; schon im Herbste wird der Webstuhl wieder aufgerichtet und daran gearbeitet; die Stallfütterung tritt ein; die Mädchen und Weiber müssen spinnen und im Sommer den Flachs rösten und brechen.“

Physikats-Berichte sind zwar eine wichtige Quelle für die historische Forschung. Empirische Wissenschaft sind sie nicht. Sie zeigen vielmehr den subjektiven Blick der Amtsärzte auf die Bevölkerung. So zum Beispiel den des königlichen Landgerichtsarztes Dr. Albert, der seinem Bericht über den Landgerichtsbezirk Euerdorf noch die Anmerkung voranstellt, „dass er denselben nach eigenen 22-jährigen Versuchen, Beobachtungen und Erfahrungen gefertigt“ habe. Ausführlich beschreibt der Arzt, dass „dem unerlaubten Geschlechtsgenusse in allen Schichten der Bevölkerung im hohen Grade gefrönt wird und die Ausschweifung hierin sowohl bei unehelichen als ehelichen mit jedem Tage mehr überhandnimmt, besonders unter jenen, welche wegen ihrer Verhältnisse selber nicht in den Ehestand treten können und dürfen. Kritisch merkt der Arzt an, dass „die ungünstigen sozialen Verhältnisse, die Hindernisse, welche einer Verehelichung entgegenstehen, die Hauptursache dieses beklagenswerten Missstandes" sind. Diesen Verhältnissen sei es auch zuzuschreiben, dass sich „unter den im ersten Lebensjahre verstorbenen Kindern über die Hälfte außereheliche befinden".

Und aus dem Bericht des Dr. Michael Katzenberger über den Landgerichtsbezirk Werneck erfahren wir: „Mit Ausnahme der Vermögenslosen und der körperlich Leidenden ist man verheiratet. Drei bis sechs Kinder sind die Regel. Geschlechtsausschweifungen finden nur bei Armen und Dienstboten statt.“ Warum dies so war, schreibt auch Dr. Katzenberger nicht.

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Die digitalisierten Physikats-Berichte sind zu finden im Katalog der Universitätsbibliothek Regensburg (www.regensburger-katalog.deexterner Link) und über die dortige EODOPEN-Sammlung (http://digital.bib-bvb.de/collections/UBR/#/collection/DTL-5873externer Link). EODOPFEN ist kofinanziert durch das Programm Kreatives Europa der Europäischen Union.

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