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Mit Einfühlungsvermögen und journalistischem Spürsinn (17. Mai 2022)

Riccardo Altieri legt eine lange überfällige Biographie über Johanna Stahl vor

Ein druckfrisches Exemplar seiner Johanna-Stahl-Biographie überreichte der Autor Dr. Riccardo Altieri (links) an den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg und Unterfranken, Dr. Josef Schuster, der zu dem Buch das Vorwort geschrieben hat. (Foto: Mauritz)

Würzburg. (mm) Biographien sind für Autoren eine Kärrnerarbeit – aber für Leser meist ein Gewinn. Solide Lebensbeschreibungen verlangen nämlich von ihren Verfasserinnen und Verfassern Kompetenz und Einfühlungsvermögen und oft genug journalistischen Spürsinn. So gesehen hat Riccardo Altieri alles richtig gemacht: er hat mit viel Sachverstand, mit bemerkenswerter Akribie und mit großer Sensibilität das kurze Leben der Namensgeberin des Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken beschrieben.

Der Autor stellt seine Johanna-Stahl-Biographie, die jetzt in der renommierten Reihe „jüdische Miniaturen“ im Hentrich & Hentrich Verlag (Berlin, Leipzig) erschienen ist, in den gesellschaftlichen Rahmen jener Zeit, in der Akademikerinnen und berufstätige Frauen noch die Ausnahme waren. Entsprechend mühevoll war der Werdegang der 1895 in Würzburg geborenen „Wirtschaftswissenschaftlerin, Politikerin und Frauenrechtlerin“, wie der Untertitel des neuen Buches das gesellschaftlich-berufliche Engagement von Johanna Stahl umschreibt.

Dennoch scheint sich die junge Frau nach ihrem, als Externe abgelegten Abitur geradezu genüsslich auf ihr Studium in Würzburg und Frankfurt eingelassen zu haben. Germanistik, ein wenig Jura und schließlich Volkswirtschaft – so lassen sich ihre akademischen Neigungen umreißen. In alten Dokumenten und Vorlesungsverzeichnissen recherchierte Altieri, welche Seminare die ehrgeizige Studentin belegt hatte. In ihrer Dissertation beschäftigte sich die junge Wissenschaftlerin mit Ratenzahlungsgeschäften – ein Thema, das durchaus in unsere Gegenwart passen könnte. Mit feinem Gespür für die wirtschaftliche Lage einfacher Leute legte sie den Finger auf die mit dem Kauf auf Pump verbundenen Fußangeln, wie etwa die „Verleitung zu unwirtschaftlichen Käufen“ oder die „Überteuerung des Preises“.

Die Rolle eines Johanna-Stahl-Biographen ist Riccardo Altieri gleichsam auf den Leib geschneidert. Der studierte Historiker und Germanist promovierte an der Uni Potsdam mit einer Doppelbiographie über Rosi Wolfstein und Paul Frölich. Bereits zuvor hatte er seit 2016 für das Johanna-Stahl-Zentrum gearbeitet; seit Frühjahr 2022 ist er dessen Leiter.

Johanna Stahl startete mit ihrem akademischen Rüstzeug 1925 in ihr berufliches Leben. Als Journalistin und Autorin schrieb sie unter anderem für bedeutende Zeitungen. Zudem engagierte sie sich für die liberale DDP (Deutsche Demokratische Partei) und natürlich in der Israelitischen Kultusgemeinde Würzburg. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten arbeitete sie in einer Selbsthilfeeinrichtung für die durch Boykott-Aufrufe und Berufsverbote arbeitslos gewordenen Juden. Sie hielt Kontakt zu in- und ausländischen Organisationen und konnte dank ihrer guten Verbindungen vielen Verfolgten zur Flucht aus Nazi-Deutschland verhelfen. Sie selber emigrierte nicht, obwohl sie dazu Gelegenheit gehabt hätte. Sie wurde im Juni 1943 in das KZ Auschwitz verschleppt und dort ermordet.

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Riccardo Altieri: Johanna Stahl. Wirtschaftswissenschaftlerin – Politikerin – Frauenrechtlerin. Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin, Leipzig, 2022, 72 Seiten, 8,90 Euro

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