Was ist los in Frankreich? (27. Oktober 2017)
Daniela Kallinich referierte über die politische Lage in unserem Nachbarland
Engagiert für die deutsch-französische Partnerschaft (von links): Vorsitzender des Partnerschaftskomitees Bezirksrat Dr. Peter Motsch, Politikwissenschaftlerin Dr. Daniela Kallinich und Alice Heller, die Leiterin des Partnerschaftsreferats beim Bezirk Unterfranken. (Foto: Mauritz)
Würzburg. (mm) Was ist los mit unseren französischen Nachbarn? Warum wurde mit Emmanuel Macron plötzlich ein politischer Außenseiter zum Staatspräsidenten gewählt? Warum zog Marine Le Pen im zweiten Wahlgang gegen den gemäßigten Konkurrenten schließlich doch den Kürzeren? Und wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Le Pen zur Elysée-Anwärterin avancierte? In ihrem Vortrag über den Aufstieg des Front National ging die junge Politikwissenschaftlerin Dr. Daniela Kallinich am vergangenen Freitag (27. Oktober) im großen Sitzungssaal des Bezirks-Gebäudes diesen und anderen Fragen nach.
Das Erstaunliche an der Präsidentschaftswahl sei, so Kallinich, dass sich bereits in der ersten Runde am 23. April die jahrzehntelange politische Zweiteilung in ein linkes und ein rechtes Lager auflöste. Das Jahr 2017 bedeute insofern eine Zäsur in der politischen Kultur Frankreichs, als jetzt andere Muster ausschlaggebend wurden. Laut Kallinich teile sich die Wählerschaft nun in ein „progressives, europafreundliches“ Klientel, das letztlich Macron in der Stichwahl am 7. Mai mit rund 66 Prozent der Stimmen für sich gewinnen konnte, und einen „patriotischen, europakritischen“ Flügel. Offensichtlich gelang es Marine Le Pen nicht, Wähler jenseits ihres „stramm rechten“ Front National für sich zu mobilisieren.
Als noch erstaunlicher bezeichnete Kallinich, dass es Macron zudem gelang, bei den Parlamentswahlen im Juni 2017 mit der von ihm gegründeten Partei „La République en Marche“ mit 308 Sitzen die absolute Mehrheit der Nationalversammlung zu erringen. Auch im französischen Parlament habe bislang das Rechts-Links-Schema gegolten, jetzt sei die Mehrheit von der politischen Mitte besetzt. Das Wahlergebnis bedeute allerdings auch, dass nur mehr 23 Prozent der bisherigen Abgeordneten wiedergewählt wurden. „Für 77 Prozent der Delegierten ging mit dieser Wahl die politische Karriere zu Ende“, betonte Kallinich. Dies bedeute einen „Elitentausch“, wie er in der Vergangenheit kaum denkbar war.
Gründe für diesen grundlegenden Wandel gebe es viele, so Kallinich. Als entscheidend für die Wahl eines Polit-Neulings hielt sie allerdings das tiefgreifende Misstrauen der Wähler: „75 Prozent der Franzosen halten alle Politiker für korrupt“, zitierte die Wissenschaftlerin, die in Göttingen und Caen Sozialwissenschaften studiert hat, aktuelle Meinungsumfragen. Die Stimmung in Frankreich sei zudem geprägt von Zukunftsängsten, Jugendarbeitslosigkeit und der Bedrohung durch islamistischen Terror.
Marine Le Pen geriere sich mit Blick auf diese Stimmung als „Verfechterin der republikanischen Werte“ und lege dabei eine „geschickte Rhetorik“ an den Tag. Dennoch erschien offensichtlich der Mehrheit der Franzosen Emmanuel Macron als „das kleinere Übel“. „Macron war die Chance, den etablierten Parteien einen Denkzettel zu verpassen, ohne die extreme Rechte zu wählen“, sagte Kallinich, die derzeit in der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung arbeitet. Und noch etwas stellte die Politikwissenschaftlerin, die mit einer Studie über die französische Zentrumspartei "Mouvement démocrate" promoviert hat, ganz deutlich fest: „Die Franzosen wollen nicht aus der EU raus!“
Sehr viel wird nun von den kommenden fünf Jahren abhängen. Wenn die von der bisherigen Politik Enttäuschten nun auch von Macron enttäuscht werden, dann könnte sich für Marine Le Pen eine zweite Chance ergeben, gab Daniela Kallinich als Resümee zu bedenken.
Eröffnet hatte die Veranstaltung der Vorsitzende des Partnerschaftskomitees, Dr. Peter Motsch. Mit Blick auf die zahlreichen europakritischen Strömungen stellte er fest, dass „das europäische Projekt, das uns allen Frieden und Wohlstand beschert hat“, in der Krise stecke. Vor diesem Hintergrund bescheinigte er der Referentin: „Das Thema des heutigen Abends könnte aktueller nicht sein“. Zuversichtlich stimmten ihn aber junge Menschen wie Daniela Kallinich, die zeigten, „dass der Geist von Europa lebt!“